Zur Eröffnung der Ausstellung
„Das Äußere und das Innere“ von Michael Ewen
am 31. Mai 2022 im Tilly-Haus, Salzgitter
Ein weißes Kreuz auf hellrotem Grund in einem roten quadratischem Rahmen. Dieses Element, horizontal und vertikal aneinandergereiht, addiert sich zum unendlichen Rapport eines dekorativen Musters. „Made in Germany – HK 3“ heißt diese Arbeit aus dem Jahr 2017, und erst, wenn man den Titel liest, erkennt man noch ein zweites Bildelement, das gegenüber dem hell herausstechenden Kreuz eher unauffällig im Hintergrund bleibt: ein senkrecht stehendes Maschinengewehr der Marke „Heckler und Koch“. Das Kreuz nimmt man in diesem Kontext auf einmal als Fadenkreuz wahr.
Ein Mann steigt eine Treppe hinauf. Auch dieses Foto, immer wieder neben- und übereinandergesetzt, vervielfältigt sich zum unendlichen Rapport eines Musters. Vor allem das Zickzack der Treppe ergibt in der Wiederholung eine dekorative Schlangenlinie, abwechselnd hell und dunkel. Doch das Foto selbst hat nichts Dekoratives an sich. Es ist ein Zeitungsfoto und zeigt einen Syrer, der in einem zerbombten Haus in Aleppo die stehengebliebene Treppe hinaufgeht, ein Bild von Krieg und Zerstörung also, so wie der zuerst genannten Arbeit das Foto eines Tötungswerkzeugs zugrundeliegt, das von einem deutschen Rüstungsunternehmen massenhaft geliefert und im Krieg eingesetzt wird.
Was ist da das Äußere und was das Innere? So kann man mit dem Titel, den Michael Ewen seiner Ausstellung gegeben hat, fragen. Sind die realistischen Bildgegenstände das Innere, das sich ein übergreifendes formalästhetische System einverleibt hat? Oder sind sie das Äußere im Sinne eines in der Außenwelt existierenden Objekts, das die Innerlichkeit einer imaginierten Ordnung zersprengt?
Michael Ewen, 1947 geboren, gehört der Generation der 68er an, die gegen den Schah von Persien, gegen den Vietnamkrieg, gegen den „Muff von 1000 Jahren unter den Talaren“, gegen das Verschweigen der NS-Verbrechen auf die Straße gegangen ist. Er versteht sich bis heute als politischer Künstler. So hat er der 2020 entstandenen Arbeit „Annegrets neues Kriegsspielzeug auf dem Wunschzettel“, die eine Formation von ostwärts fliegenden Bombern zeigt, in diesem Jahr des Ukraine-Kriegs, der vom Kanzler beschworenen Zeitenwende und der deutschen Waffenlieferungen hinzugefügt „2022 erfüllt“. Und die Abbildung eines Steines umkreist die Inschrift „Genug Steine geschleppt, Sisyphos! Schmeiß die Brocken hin! Was wir brauchen, ist eine soziale Revolution!“ Darunter die Zahl 100 Milliarden, die Summe des Sondervermögens, mit dem die Bundeswehr in den kommenden Jahren aufgerüstet werden soll. Soziale Revolution? Weit gefehlt!
Ein Selbstportrait von 2018 zeigt den Künstler mit nacktem Oberkörper, nach einer Operation mit Sonden und medizinischen Instrumenten gespickt wie der Heilige Sebastian mit Pfeilen, und dem Logo einer stilisierten Sonne auf dem links schlagenden Herzen; im Hintergrund die schon erwähnte Arbeit „Made in Germany – HK 3“. Dazu schrieb mir Michael Ewen: „Das Selbstbildnis habe ich damals betitelt mit: ‚Selbst – Galle – HK3 – Arfrin‘. 2018 gab es eine türkische Militäroffensive auf Afrin im Rahmen einer türkischen Besetzung Nordsyriens während des Syrienkrieges. Besonders perfide war dieser Angriff, weil es in Afrin eine demokratische Bewegung gab, die eine alternative Gesellschaft aufbauen wollten mit für die Region unvorstellbaren Frauenrechten und kollektivem Eigentum in Form von Genossenschaften und basisdemkratischer Verwaltung. Dies wurde mit einem Schlag zerstört. Damals hatte ich gerade meine Gallenoperation und dies war dann der Anlass, das politsche Ereignis mit meiner persönlichen Situation zu verbinden. Mein körperliche Schmerz wird zum Mitleiden an dem Schmerz der Kurden. Die Sonne steht für die Autonome Region Kurdistans. Im Bild ist im Hintergrund wiederum das Kreuz und das Gewehr HK3 zu sehen, da die deutsche Rüstungsindustrie in Form von Gewehren und Panzer an diesem Krieg beteiligt war.“
Doch Michael Ewen wäre kein Künstler, wenn es ihm nur um die Botschaft, um das „Was“, nicht auch um die ästhetische Form, das „Wie“, ginge. Überzeugend ist ihm die Synthese von beidem gelungen in einer Serie von Fotografien malerischer Spuren, die er stark vergrößert hat, und in die er dann kleine menschliche Figuren, Boote, ein Kriegsschiff, ein Foto von einer Müllkippe hineinmontiert hat, so dass sich Bilder von rätselhaften apokalyptischen Landschaften ergeben.
Auch bei den beiden Objekten „Daheim“ und „Woanders“ aus dem Jahr 2020, bleiben Sinn und Bedeutung in der Schwebe. Zu sehen ist hier auf jeden Fall, dass der Künstler an der Vertikale und der Horizontale interessiert ist, die hier um die Tiefe in die 3. Dimension erweitert wurden. Der Würfel des Foto-Objekts „Daheim“ ist solide, sauber und ordentlich gebaut, er erinnert an ein modernes Haus. Die Konstruktion von „Woanders“, in der sich Fotografie mit gestischer Malerei verbindet, besteht aus leichten Holzstäben, die mit Gips verbunden sind; sie wirkt eher wie eine luftige provisorische Hütte, eine Notunterkunft, vielleicht für Flüchtlinge, vielleicht im Armenviertel einer Großstadt. So sind die beiden Objekte polar aufeinander bezogen.
Vertikal und Horizontal sind auch das Thema der Arbeit „Unbekanntes Terrain“ von 2020, einer Serie von Installationsansichten aus dem Museum für Photographie Braunschweig, als Tableau von 3 x 3 gehängt. In der Mitte die Rückenfigur eines Mannes mit ausgebreiteten Armen vor einem leeren, weißen, schwarz gerahmten Bild. Er erinnert an den Vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci und zeigt an, dass es in dieser Serie um Maß, Messen und Größenverhältnisse geht.
Das Innere und das Äußere begegnen sich im Fenster, und auch für dieses Motiv hat Ewen eine besondere Vorliebe, sei es, dass es auf einer Fotografie gegenständlich abgebildet, sei es, dass es sich auf einer anderen indirekt als schräg versetztes, sonniges Rechteck über eine Tischplatte legt. So oder so: Ewen sucht immer komplexe Ansichten, wo Flächen sich ineinander verschachteln, verschiedene Ebenen sich durchdringen, Gegenständlichkeit und Abstraktion sich verschränken. Die Ergebnisse sind immer sehr ästhetisch und beschäftigen sowohl das Auge als auch den Geist.
Auch die abstrakten Acrylmalereien von 2021 lassen sich als Fensterdurchblicke lesen. Gegeneinander versetzte Farbflächen, mal hoch-, mal querrechteckig, wieder das Spiel mit Waagerechte und Senkrechte, nun bereichert um die Dimension des Farbigen. Ein schmaler gelb leuchtender Schlitz zwischen Braun und Schwarz, ein roter Streifen an Türkis und Gelb, eine gelbe Linie neben Rosa und Rot. Solche Bilder stehen in der Tradition der amerikanischen Color Field Painting der 50er und 60er Jahre. Sie bilden den größten Gegensatz zu den Arbeiten, in denen es um ein politisches Statement geht. Hier heißt es: What you see is what you get – dort fungiert das Bild als Übermittler einer Botschaft. Beides zusammen – die inhaltliche Aussage und die formalästhetische Schönheit – macht die Kunst von Michael Ewen aus.
Dr. Regine Nahrwold
www.freiGEISTreich.de