Eröffnungsrede von Florian Ebner zur Ausstellung 10 Tage New York der Fotogruppe punctum in der Stadtbibliothek, Braunschweig
…Wie kann man in dieser Stadt noch Bilder machen? Viele junge Fotografen an Fotoschulen und Kunstakademien scheuen sich davor, in dieser Stadt zu fotografieren, weil sie Angst haben, dass sie vor den Bildern, die sie in ihren Köpfen haben, nicht standhalten. Ein Fotografenkollektiv aus Braunschweig, die Fotogruppe punctum, bestehend aus Michael Ewen, Dieter Rixe und Norbert Skibinski hat diese Angst überwunden, und ist 1999 in die Hauptstadt des 20. Jahrhunderts gereist und hat sie in 10 Tagen fotografisch erkundet.
Eine schöne Vorstellung, dass man zu Dritt stärker ist, sich gegen die visuelle Übermacht der gewaltigen Bildmaschine zu stemmen. Was Sie hier sehen, ist ein Teil ihrer reichen fotografischen Ausbeute.
Die drei mieteten ein Apartment im südlichen Teil von Manhattan und brachen jeden Morgen zusammen auf, ausgerüstet mit einer Kleinbildkamera und Schwarzweißfilmen, der klassischen Apparatur für New York.
Doch was macht die Ikonografie von New York aus und was schlägt die drei in ihren Bann? Die Bilder, die sie mitgebracht haben, erweisen noch einmal der Straße ihre große Referenz.
Die Streetphotography, also jener Darstellungsweise des modernen Lebens, welche das Medium der Fotografie, beginnend mit der Erfindung schneller handlicher Apparate am Ende des 19. Jahrhunderts, wohl zur höchsten Vollendung geführt hat. Die Streetphotography besteht im Grunde aus drei Faktoren, aus dem architektonischen Rahmen, welche die Bühne bildet, aus den Passanten als Protoagonisten auf dieser urbanen Bühne und zuletzt natürlich aus dem Licht. Diese drei Faktoren bedingen und überschneiden sich in New York auf besondere Weise. Da sind zum einen die gewaltigen gebauten Canyons der Straßenschluchten, die den Blick in die Tiefe des Raumes, aber auch in die Höhe ziehen, da ist der Strom der Passanten aus dem Melting Pot New York, der sich durch diese Straßen zieht und da ist dieses gleißende Licht, das in die Stadt förmlich einbricht, die Szenerien in Sonnen- und Schattenseiten trennt, die Struktur der Architektur modelliert und die Figuren plastisch herausarbeitet.
Und als kleiner Einschub, so muss ich gestehen, dass ich noch nie leibhaftig in New York war, dass ich diese Stadt nur über die Fotografien kenne.
Nehmen wir kurz den Blick in die Höhe, wie er hier so elegant am Chrysler-Building oder so dramatisch am Flat Iron Building umgesetzt ist. Dieser Blick steht für uns wie kaum ein anderer Blick für New York. Vor 80 Jahren war dies noch eine völlig andere Erfahrung, nicht nur weil die Architektur neu war. Die optische Perspektive der Kleibildkamera betont ja noch die Radikalität der in die Höhe schießenden Linien…
In der Ausstellung findet sich ein schönes Zitat von Cees Notoboom: Die Dimension einer Großstadt bemisst sich danach, wie tief man unter und wie hoch man über die Erde gelangen kann. Die Distanz zwischen dem tiefsten Punkt der Subway und den höchsten Gipfeln des gläsernen Zwillings des World Trade Centers ist Ausdruck der Extreme, die sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen und damit im Verhalten der Bevölkerung von New York wider finden lässt. Für die Mitglieder der Fotogruppe punctum stellen die echten New Yorker die Menschen der Straße dar, diejenigen die nahe am Asphalt sind, sei es weil sie dort spielen, sich unterhalten, den Verkehr regeln, Fahrräder richten oder betteln. Dabei lassen sich auch die unterschiedlichen Temperamente und gestalterisch Vorlieben der einzelnen Fotografen gut beobachten.
Michael Ewen interessiert sich in besonderer Weise für den Einzelnen, oftmals vor reduzierten leeren Hintergründen, Dieter Rixe hingegen bindet die Figuren stärker in den urbanen Raum ein, in die Tiefe der Straße. Auch die jeweiligen Architekturaufnahmen gehen in eine vergleichbare Richtung. Ewen bevorzugt das Reduzierte, ordnet die Bildräume, Rixe hingegen liebt das Konvulsive, also das volle, nervöse, kontrastreiche Bild. Norberts Skibinskis Porträts und Menschdarstellung zeichnen sich wiederum durch seine Nähe und Unmittelbarkeit aus. So ergänzen sich die drei unterschiedlichen Temperamente aufs beste. Man könnte noch über die Billboards, die Fassaden der Coffeeshops oder die kleinen Wasserbehälter auf den Dächern von Brooklyn sprechen, auch sie machen die Ikonografie von New York aus, oder über Coney Island, also über das riesige Vergnügungsviertel und den Strand von New York, den keiner der früheren Fotografien ausgelassen hat, beginnend mit dem großen Walker Evans. Auch dort waren die drei und haben das Grafische-Fotogene der geschlossenen Unterhaltungslokale und Fahrgeschäfte fotografiert, ihre Strukturen und Fassaden, aber auch die Melancholie, die über diesem Viertel liegt. Das Studium dieser Bilder und Details überlasse ich jedoch ihrem Auge.
Überhaupt erscheint das Wort der Melancholie als ein passendes Wort in Vielerlei Hinsicht. 10 Jahre sind seit diesen 10 Tagen in New York vergangen. Die Fotografie verändert sich weiter rasant, ihre Genres, Sichtweise, Techniken und Praktiken sind andere geworden, aber auch New York hat sich seit dem 11. September verändert.
Aber es gibt weitere interessante Städte, etwa Berlin, oder, wenn Berlin in den letzten Jahren vielleicht zu oft fotografiert wurde, warum nicht Barcelona, und man dürfte gespannt sein, wie diese Stadt von den drei Mitgliedern der Fotogruppe punctum dargestellt wird, die ja visuell sehr kultivierte Leute sind, was nicht zuletzt auch die drei schönen Schattenselbstportraits zum Ausdruck bringen.
Florian Ebner war Leiter des Museums für Photographie, Braunschweig, später Leiter der fotografischen Sammlung am Museum Folkwang, Essen, zur Zeit am Centre Georges Pompidou, Paris