Michael Ewen

Von der Verlorenheit der Dinge

…ich beginne mit den fotografischen Arbeiten in jenem kleinen Raum. Sie finden dort Beispiele dafür, wie sich Wirklichkeit verändert durch Vergrößerung: mal sind es zwei, mal drei Fotos neben- oder untereinander im gleichen Rahmen, immer im gleichen Blickwinkel, aber jedes Mal stärker vergrößert, so dass die Wirklichkeit fremd wird, uns entgleitet – die Dinge verlieren gewohnte Wahrheit und gewinnen neue Aussage – eine Aussage allerdings, die in die Schemata des alltäglichen, materiellen Gebrauchsdenkens nicht mehr passt – allerdings : ich greife hoch, wenn ich sage: die Dinge verlieren ihre materielle Wirklichkeit und gewinnen Annäherung an ihr spirituelles Wesen…
Im nächsten Innenraum finden sich „Papierbilder“, wie Michael Ewen sie nennt. Dort hängt ein Foto, eine weite Landzunge die breitwinklig in die See hineinläuft, an der Spitze trifft sie auf den grauen Himmel. Als ich dieses Bild sah, habe ich zu Ewen gesagt: „Sie haben den Mönch vergessen“ – es gibt vom großen Caspar David Friedrich das Bild eines Mönchs, der vor dräuendem Himmel und drohender Meeresflut düster romantisch am Meeresrand steht – und daran erinnerte mich das ausgestellte Foto. –„…es ist eigentlich in eine Papierröhre hinein fotografiert…“, sagte er.
Und sehen Sie, wie die Dinge uns täuschen können, wie sie uns, Papierröhre, Licht, fotografischer Apparat, die sie nun ein-mal sind, eine andere Wirklichkeit abbilden können, als die, die sie sind.
Allerdings: dazu gehört das Auge, das dieses Bild will, und dass es das will liegt einmal am Willen des Künstlers und dann, jetzt und hier, am Willen des Betrachters…
Auf jener Seite finden Sie eine zweidimensionale Welt: in einer Kiste auf Holz liegen Gegenstände, auf fotografiertem Holz liegen fotografierte Gegenstände – das ist pfiffig gemacht, schauen Sie genau hin, nicht wahr, der kleine Spachtel dort, die Spitze hebt sich – man könnte ihn herausnehmen. Dreidimensionale Dinge, durch Fotografie reduziert auf zwei Dimensionen, zur Erinnerung bewahrt, als könne man sie wieder ins dreidimensionale Leben nehmen, greifen. Der Titel, den diese Ausstellung trägt „Von der Verlorenheit der Dinge“ wird mit diesem „Erinnerungskasten“ ein weiteres Mal deutlich…
Auf drei Lesebilder, Gebetsfototeppiche, Daseinscollagen will ich Sie hinweisen. Hier vor uns am Boden auf dem Pflaster, fotografiertes Pflaster –z.B. die Papierrolle mit dem roten Bildausschnitt darüber, oder die Klebeflasche mit roter Spitze: das Pflaster, noch einmal gerastert, und zu neuem Pflaster neu gemustert …es vereint, es vereinnahmt die einzelnen Wirklichkeiten: das Schöne, das Abstoßende, das Erschreckende …alle Einzelfotos werden gleichwertig in der dekorativen, symbolischen, ritualen Haltung, die sie an ihrem Platz einnehmen in dieser aus fotografierter Wirklichkeit gebauten Collage. Sie können die einzelnen Dinge befreien, sie selber als Betrachter, sie können jedem Ding seinen Wert zurückgeben, es sozusagen aus der Gleichgültigkeit des Dekorativen erlösen, indem sie das Bild „lesen“.
Spiegelbild und Symmetrie, aber eben nicht genau und exakt spiegelbildlich und symmetrisch jenes Am Meer : ein harter Vordergrund hinter dem die weite Landschaft steht…auch eine Lesebild… das Zentrum: gefundene Dinge am Stand, Holz, verrottete Gegenwart jetzt, nicht mehr zurückzuholen, und doch lebendiges Ding. Im Zentrum aber auch, über das ganze Bild verteilt, Strand, Sand…Symbolwerte natürlich auch, die bei Michael Ewen immer wiederkehren.
Und schließlich Tagesfahrt nach Halberstadt –kurz nach Öffnung der Mauer ein Besuch im Osten – ein Lesebild mit den Pfeilen voran, die in die Enge führen…nun ja, – ich selbst empfinde auch dies als Lesebild: im Autoverkehrsrundspiegel das zerfallene Dorf, am Wachturm die Aufschrift Schornstein-Studio Plagemann und Sohn, und die Spiegelbilder in den Pfützen der Innenräume…

Auszüge aus der Rede von Mario Krüger, ehemaliger Generalintendant des Staatstheaters Braunschweig, anlässlich der Ausstellung„Von der Verlorenheit der Dinge“ in der TUFA, Trier, Oktober 1996

Michael Ewen

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